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Eine Freundin hat mir gerade einen Artikel weitergeleitet, der Ideen für die Anwendung von Scrum und Kanban im Theater entwickelt. Der Artikel ist relativ lang (ich habe ihn ehrlich gesagt nicht komplett gelesen), aber ich finde mal wieder spannend, wo unser agiles Gedankengut noch so auftaucht.
Ich hatte im letzten Jahr Gelegenheit, tiefer und in den „Backstage“-Bereich von Theaterproduktionen einzutauchen (privat, nicht als Berater). Und schon damals gab es einen Punkt, der mich verblüfft hat und der Artikel hat mich inspiriert, dies jetzt einmal aufzuschreiben.
Ich war völlig überrascht zu lernen, dass es Standard ist, dass die künstlerische Entwicklung einer Theaterproduktion mit der Premiere abgeschlossen ist. Zitat aus obigem Artikel:
Und dann [nach der Premiere] die serielle Fertigung – sprich: weitgehend selbstidentische Aufführungen.
Regisseure sind im Normalfall nach der Premiere bei keiner weiteren Aufführung mehr dabei (weil die Nervosität häufig zu groß ist, sogar auch nicht bei der Premiere). SchauspielerInnen erleben die Probenzeit als physisch und psychisch extrem herausfordernd, das Stück zu spielen ist dann nach der Premiere vielleicht nicht unbedingt Routine, aber doch eher Handwerk auf sehr hohem Niveau anstatt künstlerische Entwicklung. Im besten Fall übernimmt noch eine engagierte Regieassistentin die minimale Weiterentwicklung und Präzisierung einer künstlerischen Idee während das Stück aufgeführt wird.
Ich war verblüfft, dass mit der ersten echten Feedback-Möglichkeit die künstlerische Entwicklung endet. Und wie auch in den Organisationen, die ich so berate, findet man auch am Theater organisatorische Muster, die dies systematisch verhindern:
- Regisseure sind nach der Premiere sofort wieder mit dem nächsten Stück beschäftigt (aka „unser Requirements-Engineer nimmt schon die Anforderungen für die nächste Software auf und ist diesem Projekt nicht mehr zugeordnet“).
- Ich vermute, dass auch die Vertragsmodelle entsprechend gestaltet sind: Bei freischaffenden Regisseuren liefern diese mit der Premiere ein Gewerk ab – der Auftrag ist dann beendet (aka Übergabe von Entwicklung in Betrieb, die Wartung übernimmt eine andere Organisationseinheit).
- SchauspielerInnen arbeiten typischerweise in mehreren Projekten und haben davon mindestens eins in Entwicklung. Auf diesem liegt natürlich der Fokus, für inhaltliche Arbeit an bereits bestehenden Projekte ist da kaum Raum. (Dies ist ein Unterschied zu unserer Arbeitsweise im IT-Kontext. Da hat der Betrieb und das Bugfixing häufig Vorrang – Entwicklungsprojekte verzögern sich daher. Im Theater ist das anders, da ist der Premierentermin = Releasetermin wirklich fix.)
- Es gibt ab der Premiere keine Rituale für Feedback z.B. eine Aufführungs-Retrospektive.
Könnte man mit agilen Vorgehensweise die Qualität von Theater (Qualität im Sinne von „Begeistere deinen Kunden“) so steigern, dass man die finanzielle Krise der Theaterlandschaft abwenden kann? Oder würde dies die Qualität (im Sinne einer künstlerischen Intention) soweit verringern, dass Theater zu reinen Wirtschaftsbetrieben werden?
Ich weiß es nicht, was meinen Sie? Und wo taucht bei Ihnen Agilität an unerwarteten Stellen auf?